Was ist die Zeit?  Quid enim est tempus?

 
     
Festvortrag anlässlich Herrn Wieners 60. Geburtstag im Haus der Kirche am 16. Juli 1997
 
Sehr geehrter Herr Wieners, meine Damen und Herren!
 
Als ich heute abend in den Saal kam, hatte ich den Eindruck, ich könne die Gliederung meines Vortrages nach dem richten, was auf der Bühne so schön aufgebaut ist. Der Liegestuhl könnte mich motivieren zu reden über das Thema: Flucht aus der Zeit. Dabei würde ich an Hugo Ball erinnert, den avantgardistischen Gründer der DA-DA-Bewegung. Die Literatur, die ausgelegt ist, nämlich die Werke Heines, könnten dann wiederum die Wirkung haben, daß ich Zeitgenosse würde. So bin ich dann in einer eigenartigen Spannung: Aus der Zeit und in der Zeit. Und die schönen Begriffe, die rundherum aufgehängt sind, alles mit Zusammensetzungen der Zeit, können weitere wertvolle Gedanken zuliefern. Doch ich lasse das und wende mich meiner Gliederung zu.
 
Ich möchte mit Ihnen gern einen Gang durch die Geistesgeschichte und Zeitgeschichte machen, um dem, was die Zeit ist, auf die Spur zu kommen. Gut ist es, wenn wir mit dem Alten Testament beginnen. Das Zeitverständnis des Alten Testamentes läßt sich sehr leicht gewinnen, wenn wir die beiden griechischen Ausdrücke für Zeit zur Grundlage nehmen. Da ist zunächst der Begriff Chronos.
 
Er meint die Zeit in der Abfolge, die linear verlaufende Zeit, den Terminkalender. Hier ist Zeit verbunden mit Tempo. Hier ist Zeit Geld, hier herrscht die Uhr und der Kalender. Dieses Zeitverständnis ist dem Alten Testament völlig fremd. Das zweite griechische Wort heißt: Kairos. Mit diesem Wort läßt sich wohl das alttestamentliche Verständnis ergründen. Es geht im Alten Testament nur um gefüllte Zeit. Jeder Augenblick ist irgendwie gefüllt. Es gibt eine Zeit zum Gebären, eine Zeit zum Vieheintreiben, eine Zeit, da die Könige ins Feld ziehen. Zu seiner Zeit bringt der Baum Früchte, Gott gibt der Kreatur Speise zu seiner Zeit. Alles Geschehen hat eine bestimmte Ordnung. Das Geschehen ist nicht ohne seine Zeit, und die Zeit nicht ohne das Geschehen denkbar. Das gilt für alle Verrichtungen, ja sogar für die inneren Empfindungen: Jegliches Anliegen unter dem Himmel hat seine Zeit. Es ist dann aber auch gefordert, diese den Dingen und Verrichtungen gesetzte Zeit nicht zu verfehlen. Auf alle Fälle: Es gibt nicht die Zeit, es gibt nur die Zeiten in ihrer jeweiligen Füllung. Und wie auch immer die Zeiten gefüllt sind - der Beter des Alten Testamentes ist davon überzeugt, daß seine Zeiten in Gottes Hand sind (Psalm 31,16).
 
Wenn wir ausreichend Zeit hätten, würden wir jetzt in das Neue Testament übergehen, dort finden wir ähnliche Vorstellungswelten. 
 
Doch gehen wir zu Plato. Plato beschreibt sein Zeitverständnis im berühmten Dialog des Timaios. Der Schöpfer der Welt will sich ein Gegenüber schaffen. So schafft er die Welt und zugleich die Zeit. Die Zeit ist Abbild des Urbildes der Ewigkeit. Die Spannung von Zeit und Ewigkeit ist dann ja auch für das Christentum entscheidend geworden. In der Geschichte hat diese Spannung bewirkt, daß Menschen Sehnsucht hatten, zurückzukehren aus der Zeit, dem Abbild, in das Urbild, der Ewigkeit. Uralte religiöse Sehnsüchte sind in dieser Spannung begründet. Doch der Schöpfer schaffte nicht nur die Zeit, er schaffte auch gleich den Kosmos mit seinen geregelten Bewegungen der Gestirne. Dieser Kosmos in seiner geregelten Bewegtheit nennen wir die Weltseele. Der Kosmos in seiner Bewegung hat dann die Zeit hier bei uns auch bestimmt. Die Bewegung des Kosmos sprang über in die Zeit, so daß Plato Zeit als Bewegung verstand. So ist Zeit Abbild des Urbildes der Ewigkeit und Bewegung. Aber Bewegung will gemessen werden. Das Maß ist die Zahl. So ist Zeit Bewegung und Zahl. Diese Vorstellungen haben die Diskussionen bis ins hohe Mittelalter hinein bestimmt.
 
Wir gehen über zu Aristoteles. Er verhandelt das Zeitproblem in seiner Vorlesung über die Physik. Für ihn ist die Zeit also mehr ein physikalischer Vorgang. Er hat eine etwas andere Fragestellung als Plato. Auch für ihn ist Zeit Bewegung. Sie ist Bewegung in dem Sinne, daß sie ein Früher und ein Später beinhaltet. Auch für ihn ist Zeit Zahl. Denn Zahl ist das Instrument des Messens der Zeit. Aber seine Frage ist: Ist Zeit auch dann, wenn keiner zählt? Da die Seele der Zählende ist, ist seine Frage ganz genau: Ist Zeit auch dann, wenn keine Seele da ist? Aristoteles glaubt, daß Zeit potentiell immer da ist, aktuell aber erst dann wurde, wenn die Seele zählt. Es deutet sich hier bereits an das Verhältnis von objektiver und subjektiver Zeit. Wir sind zwar dabei, indem wir die Sache so deuten, moderne Begriffe in die Antike zu übertragen, aber es soll zur Klärung helfen. 
 
Der nächste Theologe, den wir betrachten wollen, ist Augustin. Er lebte in der Zeit von 354 - 430 n. Chr. Für sein Zeitverständnis ist es nicht unwichtig, daß wir einen Blick in seine Zeit tun. Das römische Reich zerfiel. Der Kaiser war schon von Rom nach Konstantinopel gewandert. Gotische Stämme überrannten das weströmische Reich und gelangten zur Herrschaft. 476 wurde der letzte weströmische Kaiser abgesetzt, Romulus Augustus. Wenig später bekehrte sich der Merowinger Chlodovech zum Christentum und ließ sich taufen und übernahm die Herrschaft. Das weströmische Reich mit seiner Bildungstradition war auch prägend gewesen für Augustin. Die Ahnung vom Ende dieser Zeit muß für ihn schrecklich gewesen sein. So setzt er sich denn mit der Frage auseinander: Quid enim est tempus? Er tut dies in seinen "Bekenntnissen". Dies ist ein außerordentlich lesenswertes Buch. Es enthält 13 Teile oder auch 13 Bücher. Das 1. - 9. Buch schildert seine Biografie bis zum Tode seiner Mutter. Das 10. Buch der Confessiones bietet schon Schwierigkeiten, es in das Gesamtdenken dieser Confessiones einzuordnen. Das 11. Buch ist uns dann wieder klar. Es ist das berühmte Buch, in dem Augustin sein Zeitverständnis analysiert. Er tut dies in einem Dialog mit Gott. Ich verlese einmal die entscheidende Stelle aus diesem 11. Buch:
 
"Du, der du die ganze Schöpfung regierst, wie belehrst du die Seelen über Zukünftiges? Du hast doch deine Propheten darüber belehrt. Doch wie belehrst du über Zukünftiges, wo es für dich doch nichts Zukünftiges gibt? Lehrst du uns vielmehr, die gegenwärtigen Zeichen des Zukünftigen zu lesen? Denn was nicht ist, kann keinesfalls gelehrt werden. Dieser Weg liegt für meinen Blick in zu weiter Ferne. Es liegt mir zu hoch; aus eigener Kraft komme ich nicht an ihn heran. Aber mit deiner Hilfe erreiche ich ihn, wenn du es mir gewährst, süßes Licht meiner verborgenen Augen. 
 
Das aber ist jetzt evident und klar: Zukünftiges und Vergangenes sind nicht; die Behauptung, es gäbe drei Zeiten, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft trifft nicht im strengen Sinne zu. Im strengen Sinne müßte man wohl sagen: Es gibt drei Zeiten, die Gegenwart von der Vergangenheit, die Gegenwart von Gegenwärtigem und die Gegenwart von Zukünftigem. Denn diese drei sind in der Seele in einem gewissen Sinne, und anderswo finde ich sie nicht: die Gegenwart des Vergangenen als Erinnern, die Gegenwart des Gegenwärtigen als Anschauen, die Gegenwart des Zukünftigen als Erwarten. Erlaubt man mir, dies so auszudrücken, dann sehe ich die drei Zeiten und gebe zu, es seien drei. Dann mag man auch sagen: Es gibt drei Zeiten: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft."
 
Deuten wir das jetzt, so finden wir eine Zeit und ein Zeitverständnis, das reduziert ist auf seelisches Erleben und seelische Erfassung. Auf dieser Basis ist keine Geschichte und keine Naturgeschichte möglich. In schwieriger Zeit ist durch einen Rückzug im Zeitverständnis auch seelisches Erleben vertretbar und möglich. Dauerhaft ist es nicht möglich. Hier ist auch wahrscheinlich der Ansatzpunkt, daß die Heilsvorstellungen im Christentum wesentlich darauf konzentriert sind, die Seele zu retten, daß es im Christentum weniger darum geht, daß die Welt gerettet wird. Dieses sehr subjektive Zeitverständnis des Augustin feiert in der Gegenwart große Triumphe. Wir müssen am Ende unseres Vortrages darauf zurückkommen.
 
Springen wir nun in die Gegenwart und beschäftigen wir uns mit Martin Heidegger, einem bedeutenden Philosoph unseres Jahrhunderts (1889-1976).
 
Wir sind geradezu gezwungen, uns mit ihm zu beschäftigen, denn sein großes Werk aus dem Jahre 1927 hatte den Titel: "Sein und Zeit". Wie ist sein Zeitverständnis? Um es gleich vorweg zu sagen, Heidegger wendet sich gegen jedes objektive Verständnis der Zeit. Seine große Vorlesung über die Zeit ist eine einzige Auseinandersetzung mit der, wie er meint, unmöglichen objektiven Zeitdeutung. Für ihn ist Zeit vielmehr ein existentieller Vorgang. Es ist ein Daseins-Verständnis, es ist ein gewisser Vorgang zur Deutung meiner Existenz. Wie versteht Heidegger das? Wir Menschen leben in dieser Welt. Das Leben in dieser Welt ist zugleich ein Mit-einander-sein. Dieses Mit-einander-sein wird konkret gestaltet durch Sprechen. Im Sprechen spielt sich vorwiegend das In-der-Welt-sein des Menschen ab. Aber, wenn das In-der-Welt-sein ein Mit-einander-sein ist, ergeben sich nun Probleme. Ich zitiere:
 
"Sofern das Dasein ein Seiendes ist, das ich bin, und zugleich bestimmt ist als Mit-einander-sein, bin ich mein Dasein zumeist und durchschnittlich nicht selbst, sondern die Anderen; ich bin mit den Anderen, und die Anderen mit den Anderen ebenso. Keiner ist in der Alltäglichkeit er selbst. Was er ist und wie er ist, das ist niemand: keiner und doch alle miteinander. Alle sind nicht sie selbst. Dieser Niemand, von dem wir selbst in der Alltäglichkeit gelebt werden, ist das "Man": Man sagt, man hört, man ist dafür, man besorgt. In der Hartnäckigkeit der Herrschaft dieses "Man" liegen die Möglichkeiten meines Daseins, und aus dieser Einebnung heraus ist das "Ich-bin" möglich. Ein Seiendes, das die Möglichkeit des "Ich-bin" ist, ist als solches zumeist ein Seiendes, das man ist".
 
Wie komme ich nun aus dieser Bindung und Prägung durch das "Man" heraus? Wie kann ich ich selbst werden? Heideggers Vorstellung ist die, daß diese Ichheit zu gewinnen ist durch ein Vorauslaufen auf den Tod. 
 
Ich zitiere:
 
"Die äußerste Möglichkeit des Todes als das Sein des Daseins, in der es ganz von ihm selbst her ist, soll im Dasein selbst ergriffen werden. Das besagt aber, sofern das Dasein in der Alltäglichkeit ist, daß es sich aus dieser Alltäglichkeit in die äußerste Möglichkeit des "Ich-bin" zurückholen muß. Das Vorlaufen zum Tode in jedem Augenblick des Daseins bedeutet das Sich-zurückholen des Daseins aus dem Man im Sinne des Sich-selbst-wählens".
 
Das Vorlaufen in den Tod macht mir deutlich, wo meine Beeinflussungen des "Man" liegen. Denn im Augenblick des Todes fällt alles ab. Da bin ich nur ich selbst. Als einer, der dem Tode begegnet ist, gehe ich zurück ins Leben, nun gewappneter, mit dem "Man" fertig zu werden. Ich würde gern noch einmal Martin Heidegger zitieren:
 
"Im Vorlaufen mich haltend bei meinem Vorbei habe ich Zeit. Alles Gerede, das, worin es sich hält, alle Unrast, alle Geschäftigkeit, aller Lärm und alles Gerenne bricht zusammen. Keine Zeit haben, heißt, die Zeit in die schlechte Gegenwart des Alltags werfen. Zukünftig sein gibt Zeit, bildet die Gegenwart aus und läßt die Vergangenheit im Wie ihres Gelebtseins wiederholen".
 
Heidegger gewinnt also sein Zeitverständnis als Ergebnis einer Existentialanalyse. Der Tod wird konstruktiv verarbeitet. Ich habe in der christlichen Verkündigung den Eindruck, daß der Tod zu schnell überwunden wird durch die Botschaft der Auferstehung. Ich glaube, wir sollten diese Geschwindigkeit beiseite lassen, und sollten den Tod als eine eigenständige Größe verarbeiten und erleben.
 
Unser Weg geht weiter in die Gegenwart. Im 4. Jahrhundert tauchte der Begriff computus zum ersten Mal auf. Die Tätigkeit, die damit verbunden war, nannte man computare. Diese Menschen, die das computare bewältigten, waren Menschen, die von einer Jenseitigkeit, einer Transzendenz, einer anderen Welt als dieser Welt wußten und in diesem Bewußtsein getröstet waren. Ihr computus war eine Berechnung, ihr computare war berechnen der Ewigkeit in der Zeit. Und dieses Berechnen der Ewigkeit in der Zeit war die Frage, wie werden die Feste zur rechten Zeit für alle Christen gleichzeitig gefeiert? Schon im 2. Jahrhundert gab es in der Christenheit den Osterstreit, den Streit um die Festsetzung des rechten Termines für Ostern. Diesem Zeitberechnen, um der Ewigkeit gerecht zu werden, diente das computare. Einer der klügsten und wichtigsten Vertreter dieses Tuns war der Mönch Hermann der Lahme von der Reichenau. Er arbeitete mit Astrolab und Abakus. Seine Überlegungen und seine Gedankengänge sind uns gut bekannt. Es ist schon interessant und spannend, der Biografie Hermanns des Lahmen nachzugehen. Der Konstanzer Historiker Arno Borst hat das in großartiger Weise immer wieder versucht und getan.
 
Ende des vorigen Jahrhunderts erschien in einer Ingenieurzeitung zum ersten Mal der Begriff Computer. Aus dem computus war der Computer geworden. Holleriths Lochkartenmaschine nannte man Computer. Was hat sich mit dem Wandel des Begriffes vom computus zum Computer ereignet? Aus dem Berechnen der Zeit für die Ewigkeit ist eine Zeiterfassungsmaschine geworden, die mir meine Zeit zuteilt, die über meine Zeit verfügt und die mich in meiner Zeit kontrolliert. Es mag sein, daß solch eine Maschine sinnvoll ist. Man muß sich nur den Gedankenwechsel vergegenwärtigen, wenn man solch eine Maschine einführt, wie es im Haus der Kirche geschehen ist. Vielleicht wird sie auch eingeführt, weil die Autoritäten keine Autorität mehr haben, man nimmt eine Maschine als Autoritätsersatz. Es ist jedenfalls ein deutliches Zeichen, daß die Kirche absolut säkular geworden ist. Es macht keinen Unterschied mehr, ob ich bei Henkel arbeite oder in der Kirche. Zeit wird erfaßt, Zeit wird zugeteilt, Zeit dient nicht mehr der Ewigkeit.
 
Arno Borst beendet seine Überlegungen zu diesem Vorgang mit den folgenden Sätzen:
 
"Der amerikanische Philosoph Fraser legte nach dreißig Jahren Spezialforschung über alle Aspekte der Zeit 1987 eine historische Bilanz vor, die den Vorantreibenden wenig Hoffnungen ließ und den Ängsten der Bedenklichen weithin rechtgab. Die globale Vernetzung der Gegenwart, eingeleitet durch Atombombe und Computer, haben im letzten Menschenalter immer dichtere kollektive und atomisierte Gleichzeitigkeiten erzwungen, immer mehr von der Vielschichtigkeit vergangener Zeitordnungen vernichtet, die Variationsbreite zwischen Arbeitstag und Feierabend, Jugend und Alter, theologischer, geistiger und sozialer Entfaltung verengt, die Menschheit sei auf dem Wege, die Spielräume ihrer Humanität zu verlieren und zum Ameisenhaufen zu werden".
 
Arno Borst tröstet uns zugleich, indem er einen Hinweis über den Umgang mit dem Computer gibt, indem er sagt, daß dieser zwar berechenbar sei, aber nicht zurechnungsfähig. Ein interessanter Aspekt des verschiedenen Zeitverständnisses und Zeitumganges auf dem Weg vom Mittelalter in unsere Gegenwart, den Arno Borst uns vorführt.
 
Lassen Sie mich noch die Sache ein bißchen für die Gegenwart vertiefen.
 
Ich sagte schon, daß der Mensch im Gegensatz zum Mittelalter keine Transzendenz, keine Ewigkeit, keine Jenseitigkeit mehr hat, aus ihr nicht mehr lebt. Damit ist diese Zeit die letzte Zeit und damit auch die letzte Gelegenheit. Weil diese Zeit die letzte Gelegenheit für das Leben ist, so darf man nichts versäumen. Man möchte viel erleben, die Zeit wird immer knapper, sie fliegt dahin. Weil alle so denken, kommt es, und ich finde den Ausdruck großartig, zum "kinetischen Karfreitag". Es kommt zum Tod und zum Zusammenbruch der Bewegung. Bei Urlaubsbeginn sind alle aufgebrochen, um zu erleben, keiner will etwas versäumen, stop und go geschieht, kinetischer Karfreitag! Bei dieser Lebenseinstellung darf nichts stören. Der Tod muß verdrängt sein. Ich zitiere einmal Marianne Gronemeyer:
 
"Nichts scheint dem modernen Menschen weniger geeignet, um sein Verhältnis zur Welt ins Gleichgewicht zu bringen, als Geduld. Im Gegenteil, nur mit äußerster Ungeduld glaubt er dem fundamentalen Mißverständnis, in das er geraten ist, beikommen zu können: Als ein Lebewesen mit einer begrenzten Lebensspanne sieht er sich einer verlockenden Fülle von Weltmöglichkeiten gegenüber. Die Kluft zwischen Lebenszeit und Weltmöglichkeit ist so tief beunruhigend, daß er darüber in Panik zu geraten droht. Angesichts des Überangebotes der Welt erfährt er seine Zeitknappheit erst recht quälend und die Angst, das Meiste, das Wichtigste oder das Beste zu versäumen, wird zum peinigenden Grundgefühl des Lebens. Von immer mehr Weltdingen wird seine Begehrlichkeit angestachelt, immer mehr Möglichkeiten sind in der Reichweite seines Zugriffes und immer ungünstiger gestaltet sich die Bilanz zwischen den ergriffenen und den versäumten Gelegenheiten. Unwiderstehlich fühlt sich das bedrängte Individuum in dem Wettlauf mit der Zeit hineingezogen. Die Idee dieser sportiven Konkurrenz ist von frappierender Einfachheit: Durch Techniken und Kunstgriffe der Selbstbeschleunigung sucht das Individuum Zeit zu gewinnen, um mehr von der Welt zu haben".
 
Als Folge dieser Einstellung wird die Entfernung als störend empfunden. Sie verhindert, daß ich schnell zum Erleben komme. So muß die Entfernung abgeschafft werden. 
 
Marianne Gronemeyer gibt ein schönes Beispiel in ihrem Buch "Das Leben als letzte Gelegenheit":
 
"Am 31. Dezember 1976 stiegen 40 Amerikaner in Paris aus dem Flugzeug, eigens um dort Sylvester zu feiern, dann die Concorde zu besteigen und dort an Bord Sylvester zu feiern, in Washington zu landen und in der französischen Botschaft wieder Sylvester zu feiern".
 
Die Entfernung ist überwunden, das Erleben hat keine Grenzen durch Entfernungen.
 
Aber, ich brauche nicht die Concorde zu besteigen, um Ähnliches zu erfahren. Noch einmal Marianne Gronemeyer:
 
"Allerdings ist die Belanglosigkeit des Raumes noch zu steigern. Die geradeste Gerade ist der moderne Schienenstrang, auf dem die Hochgeschwindigkeitszüge verlegt werden. Um der geraden Streckenführung willen, um nicht nur das Hin und Her, sondern auch das Auf und Ab im Gelände zu vermeiden, bohrt sich die Schiene unter der Erde hindurch. Die Röhre bietet gegenüber der Bahn weitere Beschleunigungsvorteile. Der Reisende wird endgültig zum blinden Passagier. Nicht weil ihm das Augenlicht abhanden gekommen wäre, sondern weil ihm jeder mögliche Gegenstand der Betrachtung entzogen wurde. In den Grüften der Eisenbahntunnel ist der Raum mitsamt Licht und Luft endgültig aufgegeben. Während er von dem Hochgeschwindigkeitsvehikel der Schiene untergraben wird, wird er zuguterletzt von den Tranportmitteln der Luft übersprungen. In beiden Fällen ist er verschwunden. Der Mensch ist in einem luftdicht verschlossenen, wetterfesten, belichteten und klimatisierten Gefährt gegen alle Raumeinflüsse hermetisch abgeschirmt: ein versiegelter Reisender".
 
Der Raum ist dahin. Das bedeutet, wir kommen nicht mehr an. Wer nur erleben will, kommt nicht mehr an. Horst Opaschowski, der Hamburger Pädagoge und Freizeitpädagoge, hat den Touristen mit diesem Lebensgefühl definiert als einen Menschen, der atemlos gelangweilt ist. Er ist atemlos, weil er alles erleben will, er ist gelangweilt, weil die Kraft zum Erleben dann doch nicht ausreicht.
 
Diese Versäumnisangst kann natürlich auch zu Leichtfertigkeit und Gewissenlosigkeit bei den Agenturen für Erlebnisse und bei uns selbst führen. Darauf möchte ich jetzt nicht näher eingehen.
 
Man kann ja wohl als Bilanz sagen, daß hier die subjektive Zeitdeutung des Augustin höchste Triumphe feiert.
 
Ich habe den Eindruck, ich schließe recht negativ. Was kann ich tun? Ich möchte mit Ihnen träumen - träumen, um einen Ausweg zu finden. Ich stelle mir vor, ich lade Hermann den Lahmen zu mir ins Studienzimmer ein, damit wir eine gute Zeit zusammen haben. Ich spiele ihm Bachs Kunst der Fuge vor, er erklärt mir seine großartigen musikwissenschaftlichen Berechnungen. Ich werde sie kaum verstehen. Dann wird er mir von seinem Astrolabium erzählen, von seinen Berechnungen der Feiertage, von der Wichtigkeit dieser Berechnung, von seiner Gebundenheit an eine jenseitige Welt, und ich werde staunend zuhören. Dann werde ich ihn mitnehmen ins Haus der Kirche und werde ihm dort die Zeiterfassungsmaschine vorführen, er wird den Kopf schütteln. Er wird es nicht verstehen. Er wird wieder anfangen, mir von seinem Zeitverständnis etwas zu sagen. Am Ende wird er mir sagen, ich solle mit ihm zur Reichenau kommen in sein Kloster, dort könne ich in der Markuskirche ein Hochamt erleben, wo meine Augen die Ewigkeit mit erfassen können und erleben würden. Er würde mir sagen, daß ich damit viel reicher wäre als in den evangelischen Kirchen der Gegenwart, wo das Auge nichts zu erleben hat, wo man es am besten schließt. Und dann würden wir zusammen Zeit berechnen um der Ewigkeit willen. Mit uns würde Arno Borst sein. Er würde uns das Computare der Frühzeit des Mittelalters verdeutlichen.
 
Nun werden Sie vielleicht lächeln, daß meine Sehnsucht im Traum mich ins Mittelalter führt, Sie werden lächeln, weil Sie das Objekt eines Propagandamittelalters sind und nicht das wahre Mittelalter kennen. So lassen Sie mich noch zwei Bemerkungen vom wahren Mittelalter sagen. Die erste Bemerkung ist ein Zitat aus dem Buch von Kurt Flasch, des Bochumer Mediävisten, das den Titel trägt: "Das Licht der Vernunft". Dort schildert er einleitend das Mittelalter:
 
"Und was das Mittelalter angeht, so ist es anziehend und charakteristisch als eine Zeit, in der ein König einen vollen Haarschopf brauchte, um herrschen zu können, eine Zeit, in der arme und schlecht ernährte Menschen zu Fuß von Westfalen nach Compostella wallfahrten, die Hilfe erwarteten an einem Grab, von dem sie glaubten, ein Apostel läge in ihm. Ich finde gar nichts Unvernünftiges dabei, wenn ein Graf im 11. Jahrhundert Burg und Herrschaft verließ, um, von seiner Größe seiner Sünden beeindruckt, nach Jerusalem zu ziehen, um am heiligen Grab Buße zu tun, in dem, einige Meter davor, sich völlig entkleidet, um die letzte Strecke am Boden kriechend zurückzulegen. Ein büßender Graf tat noch mehr, bevor er die heilige Stätte verließ, erreichte sein religiöser Eifer den Höhepunkt: Er biß mit seinen Zähnen ein Stück heraus aus dem heiligen Stein, um für das bißchen irdische Leben, das ihn noch erwartete, ein Unterpfand ewigen Heils zu haben. Wie gesagt, ich leugne solche Vorgänge nicht nur nicht; ich arbeite sie liebevoll aus den alten Texten heraus. Mir gefällt in Freiburg das Münster aus dem 14. Jahrhundert besser als die ganze Universität; ich schätze die Kaiserkrone Heinrich III., die man in Speyer gefunden hat, höher als das ganze Bundeskriminalamt; ich bin noch nicht einmal sicher, ob es in einem modernen Gerichtssaal gerechter und vernünftiger zugeht als bei einem Gottesurteil, bei dem ein Verdächtiger ein glühendes Eisen sieben Meter weit tragen mußte oder gefesselt ins Wasser geworfen wurde: Ginge er unter, war er unschuldig; schwamm er oben, war er schuldig. Es geht also nicht darum, an den Fortschritt zu glauben.
 
Es wird hier nicht empfohlen, für die Aufklärung zu schwärmen. Niemand will das 18. Jahrhundert ins Mittelalter zurückverlegen. Es ist kritiklos, wenn Laien bewundernd feststellen, dies oder jenes, das sie hochschätzen, habe es in der Antike oder im Mittelalter auch schon gegeben. Dieses 'auch schon' ist, offen gestanden, ziemlich albern. Wer noch so naiv den Fortschritt anbetet, der mache folgende kleine Überlegung: Der Kinderkreuzzug war unvernünftig, meinetwegen. Aber was war dann der 1. Weltkrieg?"
 
Und noch einen anderen Hinweis möchte ich persönlich geben, um Sie für das Mittelalter, für meinen Traum, zu gewinnen. Es war eine Zeit, in der man exzessiv trauern konnte, in der man sich exzessiv freuen konnte. Wir müssen heute wieder trauern lernen! Wir sollen uns freuen als freuten wir uns nicht, sagt Paulus. Das ist in der Tat zu wenig. Das Mittelalter war aber eine Zeit unendlicher emotionaler Ausdehnungsfähigkeit. Demgegenüber komme ich mir vor wie ein domestizierter Zwerg Oskar, um Günther Grass zu zitieren. Lesen Sie einmal, um diese großartige emotionale Ausdehnungsfähigkeit zu erfassen, Johan Huizinga über den "Herbst des Mittelalters". Dort haben Sie alles, was ich sagen wollte. Und wenn Sie mich dann auf der Reichenau besuchen, werden Sie sicher dableiben. 
 

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Martin Gerlach, 16.7.1997