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Vortrag, Düsseldorf, am 23.August 2006
Während meiner Studienzeit wurde entdeckt, dass biblische Texte
einen Sitz im Leben haben. Es sind also nicht abstrakte
Formulierungen, sondern sie sind in einer ganz bestimmten Situation
entstanden, und der Text will helfen, diese Situation zu klären und
Probleme zu lösen. Diese Einstufung von Texten sollte helfen, Texte
sachgemäßer zu interpretieren, als wenn man den Kontext, in dem sie
entstanden sind, nicht berücksichtigt. Diese Vorstellung vom Sitz im
Leben ist heute erweitert durch das Prinzip der kulturellen Kohärenz.
Darunter wird verstanden, dass Texte nicht nur in einer ganz
bestimmten Situation entstanden sind, sondern dass Texte darüber
hinaus von einem kulturellen Milieu geprägt sind und in einem
kulturellen Milieu zu Hause sind. Dies ist eine Feststellung, die
wertfrei ist, aber hilfreich zur Interpretation. Als Problem wird
diese kulturelle Kohärenz empfunden, wenn heute Texte aus einer
anderen kulturellen Situation in die Gegenwart übertragen werden.
Darf man das, ist das möglich, ist das hilfreich? Als erstes Beispiel
möchte ich hinweisen auf die Vorstellung des Apostels Paulus vom 1.
Korintherbrief 14, wo er mit seiner jüdischen Vorstellung für seine
jüdischen Gemeindeglieder davon redet, dass eine Frau in der Gemeinde
schweigen soll. Sie habe ja auch ihren Mann zu Hause, der allein
geistige Potenz haben kann. Wenn man dieses nun in die Gegenwart
überträgt und daraus folgert, dass nur Männer Priester und Pfarrer
sein dürfen, aber keine Frauen, dann entsteht unser Problem. Ist eine
solche Argumentation statthaft? Wie ist es nun möglich, dass Texte
aus einer vergangenen kulturellen Situation in die Gegenwart hinein
transportiert werden können? Was ist mit den Texten geschehen?
Es gibt auf diese Problematiken drei Antworten. Zunächst, die Texte
sind kanonisiert worden. Das heißt: ihr Wortlaut darf nicht mehr
verändert werden. Damit sie in der jeweiligen gottesdienstlichen
Situation überhaupt verstanden werden können, müssen sie permanent
interpretiert und ausgerichtet werden, aber sie dürfen nicht in ihrer
Aussage geändert werden. So, als kanonisierte Texte gelten sie über
die Zeiten hinweg. Eine schöne Überlegung zur Kanonisierung von
Texten hat Jan Assmann vorgetragen in seinem Buch: "Religion und
kulturelles Gedächtnis". Dort heißt es: Kanonisierung ist eine
besondere Form von Verschriftlichung. Die Texte werden nicht einfach
niedergeschrieben, sondern in ihrer Verbindlichkeit gesteigert. Diese
gesteigerte Verbindlichkeit bezieht sich auf ihre Gestalt, ihren
Wortlaut und auf ihre Autorität, was eng miteinander zusammen hängt.
Autorität bedeutet, dass alles, was der Text sagt, schlechthin für
alle Zeiten normative Geltung hat und dass alles, was normative
Geltung sonst beansprucht, sich als Sinn dieses Textes muss ausweisen
können. Damit ist zugleich gesagt, dass der Text weder
fortgeschrieben, noch um weitere Texte ergänzt werden kann, sondern
dass fortan aller weitere Sinn nur aus dem Text selbst gewonnen werden
muss. Die Schließung bringt seine Gestalt, die nur in ihrem Wortlaut
fixiert wird. Mit dieser Endgestalt ist das geschichtliche Werden des
Textes vergessen. In dieser kanonisierten Form, so geht die Folgerung,
hat dieser Text Gültigkeit für alle Zeiten.
Die jüdischen Theologen haben diese Kanonisierung in einer
interessanten Form vorgenommen. Als um 200 n.Chr. die Interpretation
der Thora gesammelt wurde, um fixiert zu werden, wurde vorgeschlagen,
um den Text einen Zaun zu machen. So konnte von dem Text nichts
genommen werden, es konnte nichts hinzugefügt werden, es kann auch
nicht neuer Sinn einfließen, um ihn in seiner Bedeutung zu verdrehen.
Eine zweite Überlegung, die den Text so gesehen hat, dass er für
alle Zeiten gültig war, ist in der sogenannten sekundären Religion
geschehen. Unter sekundärer Religion versteht man heute eine
institutionalisierte Religiosität. In dieser institutionalisierten
Religiosität wird das ganze Leben in eine Gottesbeziehung, und d.h.:
in die sichtbare Religion, direkt integriert, von ihr durchdrungen.
Wichtig ist z.B. jetzt, dass das ganze Leben nun in die
Gottesbeziehung und das heißt, in die sichtbare Religion direkt
integriert von ihr durchdrungen ist. Gerechtigkeit, die Gerechtigkeit
Gottes wird nun zur Grundlage der Gottesbeziehung. Gerecht ist nun,
wer den Anforderungen göttlichen Rechts ganz und gar gehorcht. Damit
wird auch das kulturelle Gedächtnis theologisiert.
Ein dritter Umgang mit dem Text, der ihn auch so absolut setzt,
ereignet sich dann, wenn Religion Staatsreligion wird. Dann treten
Theologen auf und begründen mit dem Text ihre kritischen Bemerkungen
zur politischen Entscheidung. Interessant ist als Beispiel hierfür
der Streit um die Homo-Ehe, in den die Kirche ja abweisend
eingegriffen hat. Dahinter stand natürlich die Vorstellung, die
Paulus im Römerbrief entwickelt hat, in der er die Homo-sexualität
kritisch abgelehnt hat. Wenn wir diesen Vorgang der Übertragung eines
Textes aus einem vergangenen Milieu in eine gegenwärtige
Fragestellung kritisieren, dann müssen wir zugleich beachten, welche
Konsequenzen dieser Text in der Geschichte gehabt hat, die Menschen
haben u.U. unter dieser Anwendung dieses Textes leiden müssen.
Homosexualität und Sexualität haben heute einen ganz anderen
Stellenwert, sind anders beurteilt, werden offener verstanden.
Zusammenfassend möchte ich den bisherigen Gedankengang so sagen: Das
Wertesystem einer modernen oder auch postmodernen Gesellschaft
orientiert sich nicht maßgeschneidert am Wertesystem einer sichtbaren
Religion wie dem Christentum. Nimmt man etwa das Grundgesetz in
Verbindung mit dem Menschenrecht als jenen Minimalkonsens, der alle
Staatsbürgerinnen und Staatsbürger zusammenhält, dann gibt es in
diesen kulturellen Texten sicherlich sehr vieles, was aus der
jüdischen, hellenistischen und christlichen Überlieferung stammt.
Aber es wäre ein Irrtum zu glauben, diese Texte ließen sich
lückenlos auf jene Tradition zurückführen. Es ist vielmehr so,
dass hier jene 2000 Jahre kulturgeschichtliche Erfahrung mitspielt,
die seit dem Anfang der christlichen Zeitrechnung gemacht worden ist.
Sie schließen -
das ist ganz wichtig - also die negativen Erfahrungen mit ein, die das
Christentum durch solch ein Fehlverhalten erzeugt hat.
So formuliere ich: Wo dieses geschieht, dass ein früherer Text in der
Gegenwart Wert bekommt und entscheidend wird, dass hier eine
totalitäre Verhaltensweise vorliegt. Und deshalb wende ich mich gegen
diese totalitäre Form.
Ein Beispiel sei noch nachgetragen, an dem deutlich wird, was sich
ereignet,
wenn vergangene Texte aus einem kulturellen Milieu in die Gegenwart
übertragen werden. Das sogenannte apostolische Glaubensbekenntnis
formuliert seine Auffassung von Jesus entsprechend dem Weltbild der
neutestamentlichen Zeit. Die Welt war dreigeteilt, Himmel, Erde,
Hölle. So ist der Weg Jesu von der Erde in die Unterwelt und dann in
den Himmel, wo er sitzt zur Rechten Gottes, des Vaters, von dannen er
kommen wird, zu richten die Lebenden und die Toten. Wir müssen heute
unserem Weltbild entsprechend und gemäß die Christologie entwickeln.
Dies, was hier vorgetragen wird, im apostolischen Glaubensbekenntnis,
ist nicht mehr nachzuvollziehen.
Wenn ich diese Situation nun so begreife und schildere, entsteht
die Frage, was ist zu tun? Sie müssen heute davon ausgehen, dass
religiöse Erfahrung universal ist. Es gibt nicht eine richtige
religiöse Erfahrung, wodurch die anderen dann abgewertet werden, es
gibt universale Erfahrung auf einer Ebene
der Wertigkeit. Das beendet sicher eine theologische Diskussion über
die Absolutheit des Christentums, das lehnt auch die Vorstellung Karl
Barths ab, dass Christentum keine Religion, sondern Offenbarung sei,
sondern diese Sicht öffnet uns zum interreligiösen Dialog. Wir
müssen unterscheiden zwischen universalen Wahrnehmung des Göttlichen
und den verschiedenen Gestalten, Wahrnehmungsgestalten, in denen sich
diese religiöse Wahrnehmung uns zeigt. Es ist nicht mehr möglich,
jetzt eine religiöse Erfahrung als die objektive Wirklichkeit
hinzustellen. Diese Analyse ergibt sich aus unserem biblischen Befund.
Hier haben wir bereits 2 religiöse Dokumente in einem Buch. Es ist
ein jüdisch-theologischer Teil und ein christlicher Teil. Beide sind
gleichwertig. Wir können nicht mehr reden in der Form, dass wir das
sogenannte Alte Testament
als Vorform für das Neue Testament verstehen. Das Alte Testament -
wir sollten den Begriff nicht mehr gebrauchen - ist gleichwertig mit
dem christlichen Teil. Der Befund in der Bibel ist also schon der
Hinweis auf die verschiedenen Gestaltungen der erfahrenen Wahrheit,
ist ein Hinweis auf interreligiösen Dialog und davon sollten wir
ausgehen.
Wie ist nun diese Vorstellung verwirklicht etwa? Ich möchte gern
zitieren aus der EKD-Denkschrift aus dem Jahre 2003 mit dem Thema:
Christlicher Glaube und nichtchristliche Religionen. Da wird
formuliert, "dass der christliche Glaube aus der über die ganze
Welt entscheidenden Wahrheitserfahrungen hervortritt".
Christlicher Glaube ist also die Spitze religiöser Erfahrung. Ich bin
erstaunt, dass heute noch so gedacht und so formuliert wird. Ich
könnte mir eine Antwort auf die Frage nach der Christlichkeit und der
Wahrnehmung der christlichen Religiosität so vorstellen: Angemessen
ist es, zu sagen: Dass ein Teil der Christen in der Begegnung mit
Jesus Christus zum Glauben gekommen seien. Er, bzw. sein Sühneopfer,
Todopfer, habe für die ganze Welt eine alles entscheidende
Heilsbedeutung. Dann ist wenigstens gerettet, dass die Entscheidung
eine persönliche Erfahrung ist, die ernst genommen wird, und
von der her geurteilt wird.
Doch hier entsteht gleich ein Problem. Der Sühnetod Jesu ist nicht
mehr nachzuvollziehen. Der Tod Jesu war für die frühe christliche
Gemeinde ein Schock. Sie flohen aus Jerusalem, weil sie den Eindruck
hatten, die Sache ist beendet. Paulus übernimmt dann aus der
jüdischen Tradition (3.Buch Mose, 16) die Opfervorstellung und
bezieht sie auf den Tod Jesu. Dabei korrigiert er dies ein bisschen
und sagt, es ist Sühneopfer, während doch alle religiösen Kulte des
Judentums keine Sühneopfer waren. Und aus dem Opfer eines Tieres wird
hier ein Menschenopfer. Aber immerhin, Paulus kann dem Tod Jesu eine
positive Deutung beimessen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass Jesus
seinen Tod nicht selbst gedeutet hat. Doch lässt sich dies für uns
heute noch verstehen? Unsere kulturelle Situation ist nicht mehr
verbunden mit Tieropfern als Sühneopfer. Wir müssen doch wohl den
Tod Jesu heute anders deuten. Paulus hat das selbst schon getan, indem
er mehrere Deutungen vorgetragen hat, die Kirche sich aber auf diese
Opfervorstellungen des Sühnetodes eingelassen und alles andere
vergessen hat.
Wenn wir nun die Sühneopfervorstellung ablehnen, dann ist das
nicht nur begründet darin, dass wir in einer kulturellen Situation
sind, in der dies nicht mehr nachzuvollziehen ist. Wir müssen auch,
wie wir eben schon angedeutet haben, die Wirkungsgeschichte einer
solchen Aussage bedenken. Das Kreuz, der Mord an einem Menschen, wird
zur Basis des Heilsverständnisses. Eine erstaunliche Aussage. So
konnten denn die Kreuzzüge beginnen, als Kreuz- züge, und die Morde,
die man dann begann, waren doch Hinweise auf Heil. Wenn die
Kreuzfahrer dann gleich in Mainz, Speyer und Worms begannen, die Juden
umzubringen, dann war das eben schon Mord als Heil. Und denken Sie
einmal an politische Situationen. Wenn auf dem Koppelschloss steht:
"Gott mit uns", dann war das doch der Hinweis, Gott ist auf
unserer Seite. Und wenn wir die anderen, die Feinde, ermorden, dann
ist das der Weg zum Heil. Wir können dieses Modell des Mordes als
Grundlage des Heils nicht mehr nachvollziehen. Die Wirkungsgeschichte
ist zu grausam. Wir sollten diese Vorstellung aufgeben.
Dieses bringt noch ein anderes Problem, was wir auch aufgeben müssen.
Dieses hängt damit zusammen, was ich jetzt vom Kreuz als Konsequenz
erzählt habe. Wir müssen neu überlegen, ob wir alle Gesichter des
alttestamentlichen Gottes Jahwe noch heute nachvollziehen können.
Bernhard Lang hat eine großartige Studie über Jahwe, den jüdischen
Gott geschrieben. Seine Gesichter sind etwa die: er ist der Herr der
Weisheit, er ist der Herr des Krieges, er ist der Herr der Tiere, er
ist der Herr des Einzelnen - der persönliche Gott - und er ist der
Herr der Ernte. Der Herr des Krieges, das ist unser Problem. Er hat in
der Tat gegen die Feinde seines Volkes mit dem Volk gekämpft. Wenn
Sie eine großartige Darstellung des kriegerischen Gottes sich
vergegenwärtigen wollen, dann ist es wertvoll, einmal den Text 2.
Buch Mose, 15 ganz zu lesen. Eine gewaltige Beschreibung des
kriegerischen Gottes.
Ich denke, wir müssen von diesem Bild Abschied nehmen. Der
christliche Gott, der Gott Jesu, hat mit diesem Gottesbild nichts zu
tun. Wir können nach einem Sieg gegen Feinde im Krieg nicht singen:
"Nun danket alle Gott."
Ich möchte gern auf eine Konsequenz aufmerksam machen. Stellen Sie
sich vor, islamische Theologen würden die Interpretation des Koran so
vornehmen, dass sie die kulturelle Kohärenz der Texte deutlich
verstehen und sich ernsthaft fragen, ob man diese Texte noch in die
Gegenwart hineintragen kann. Ich denke, wenn dies gründlich und
intensiv geschieht, wäre die politische Situation heute eine andere.
Es ist nicht nachzuvollziehen etwa, dass die Trennung von Schiiten und
Sunniten, die doch entstanden ist am Streit über die Nachfolge des
Propheten, und die dann zu einer eigenständigen Entwicklung beider
Gruppie-rungen geführt haben, heute noch in dieser kämpferischen
Form ausgetragen werden kann. Ich glaube, dass in unserer Zeit die
Interpretation des Koran entscheidend ist über die politische
Wirklichkeit, in der wir leben müssen und unter der wir leiden.
Martin Gerlach
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