Ansprache von Dr. Gerlach anlässlich 
seines Geburtstages

 
   

Ansprache von Dr. Martin Gerlach an Gäste anlässlich seines 80. Geburtstages am 31. Mai 2007, Anglikanische Kirche Düsseldorf.

 

Ermutigung zum denkenden Glauben

- Erwägungen über Größe und Grenze der Theologie –

1. Zwischen Verachtung und Bewunderung

Vor etwa 40 Jahren begann mir aufzufallen, dass in neutralen und eher kirchendistanzierten Presseorganen theologische Begriffe so wie das Wort „theologisch“ überhaupt gern in einem abschätzigen Sinne gebraucht wurden. Bestimmte Meinungen und Sachzusammenhänge sollten dadurch, dass man sie theologisch nannte und durch einen aus der theologischen Fachsprache entnommenen Begriff kennzeichnete, lächerlich gemacht und als nicht ernst zu nehmen hingestellt werden. Eines Tages wurde es mir zu bunt, und ich begann, solche missbräuchlichen Verwendungen theologischer Begriffe zu sammeln und in einer Kartei zu speichern. Hier sind nun ein paar Auszüge aus dieser Kartei, die das Problem verdeutlichen sollen:

Soziologie, Psychologie, Politikwissenschaft, Friedensforschung, auch Literaturwissenschaft seien nur theologische Fächer und gehörten nicht an die Universität, will sagen: sie haben nichts mit wissenschaftlichen Argumentation zu tun. Politiker haben nicht wie Moraltheologen zu räsonieren. Und darum hat man über die Neutronenbombe nicht moraltheologisch, sondern waffentechnisch und politisch zu urteilen. Ein staatsmännisches Programm hat sich von einer Kanzelabkündigung zu unterscheiden, und der amerikanische Präsident hat eine außenpolitische Sonntagspredigt gehalten. Die Debatte um die zukünftige Gestalt Europas sieht zwar wie ein Theologendisput aus, hat aber trotzdem praktische Folgen. Und selbstverständlich waren die Ideologen in Moskau die Kreml-Theologen und die kommunistische Welt eine Kirche. Und so könnte man lange fortfahren und zitieren.

Die Verachtung der Theologie, die aus solchen zahllosen ähnlichen Äußerungen spricht, ist schier grenzenlos. Sie geht ja im Ernst schon so weit, auch nur eine ethische Rückfrage als überflüssigen, der Effizienz der Diskussion behinderten Luxus anzusehen.

Aber nun kann man zur großen Überraschung auch ganz anderes erleben. Ich hatte vor einigen Jahren mit einer Behörde in Düsseldorf zu tun. Ich kam mit dem Amtsleiter in ein freundschaftliches Gespräch, bei dem er sich auch nach meinem Fach erkundigte, das ich studiert habe. Auf die Antwort: „Ich bin Theologe.“, kam von meinem Gesprächspartner, offenkundig einem treuen evangelischen Christen, die spontane Entgegnung: „Das ist ja wohl das schwerste Fach.“ Im Fortgang des Gespräches stellte sich heraus, dass der Amtsleiter zunächst einmal die sprachlichen Voraussetzungen des Theologiestudiums – also die Beherrschung des Hebräischen, Griechischen und der lateinischen Sprache – als eine beträchtliche Hürde ansah, die nur Intelligente und Charakterfeste in der Lage seien zu nehmen. Außerdem war ihm bewusst, dass die Anforderungen einer theologischen Doktorarbeit im Vergleich zu anderen Fächern unverändert hoch und nicht inflations-gefährdet sind. Wir haben noch manches miteinander geredet, ich habe ihm aber auch deutlich gemacht, dass an theologischen Fakultäten nur mit Wasser gekocht wird.

Die Stellung der Theologie, also zwischen Verachtung und Bewunderung, ist wahrhaft paradox. Was der eine als gefährlichen, zumindest unseriösen Fanatismus ansieht, erscheint dem anderen eine geistige Anstrengung von höchstem Schwierigkeitsgrad. Es ist noch paradoxer: Was in der Tat objektiv und belegbar größte intellektuelle und charakterliche Disziplin fordert, wenn etwas dabei heraus kommen soll, dient nach Meinung anderer nur dazu, jede vernünftige, sachgerechte und effiziente und letztlich das Wohlergehen der Menschen fördernde Diskussion durch unseriösen Fanatismus um ihre Früchte zu bringen. Im Zeichen dieser jetzt geschilderten Paradoxie fragen wir: „Was gibt eigentlich noch den Mut zur Theologie?"

Ich frage jetzt zunächst im zweiten Abschnitt, was macht mutlos vor der Theologie?

Als ersten Punkt möchte ich über die Orientierungslosigkeit reden.

Der erste Entmutigungsfaktor, der auch schon vor dem Studium vielen Studenten und Studentinnen bewusst wird, ist die generelle Orientierungslosigkeit gegenwärtiger Theologie, die diese zum unverbindlichen Gedankenspiel zu machen droht. Jedenfalls erweckt die an unseren Universitäten betriebene Theologie einen solchen Eindruck. Auf evangelischer Seite hängt dies eindeutig mit dem Wegfall dessen zusammen, was wir alle theologische Schulen nannten. Wer beispielsweise bis in die 60er Jahre nach Basel ging, der wurde Barthianer, ja, er oder sie ging nach Basel, um Barthianer zu werden, und dagegen half auch nichts, dass Karl Barth gesagt haben soll: „Ich habe gehört, es soll in dieser Universität Barthianer geben. Ich muss dazu feststellen: ich gehöre nicht zu ihnen!“ Auf dieselbe Weise wurde man Bultmannianer, wer nach Marburg ging, ein Erlanger, wer bei Paul Althaus in Erlangen studierte. Die etwas jüngere Nachfolgegeneration dieser Forscher, war schon nicht mehr schulbildend. Zwar gibt es charakteristische Schüler von all diesen, aber man redet kaum von einer Schule.

Warum es mit den Schulen, warum es mit den theologischen Schulen, ein Ende gefunden hat, ist schwer in wenigen Sätzen zu sagen. Begünstigt wurden sie zweifellos einmal dadurch, dass die Schulhäupter eine außerordentliche örtliche Stabilität bewiesen. Ganze Generationen von Professoren mochten durchziehen, aber Basel blieb die Stadt Karl Barths, Marburg die Stadt Rudolf Bultmanns, Erlangen der Platz von Paul Althaus. Zum anderen begünstigte die alte, heute schon sprichwörtliche Ordinarien-Universität die Dominanz einzelner großer Leute, die dann, gleichgültig, welches Fach sie vertraten, innerhalb der eigenen und auch doch noch andere Universitäten für ein Kollegium zu sorgen wussten, das ihre Stellung als Schulhaupt nicht in Frage stellte. Nicht von ungefähr fällt darum das Ende der Schulen mit der Zeit zusammen, da überhaupt die selbstverständliche Autorität der Altvorderen in zunehmende Zweifel geriet. Die demokratische Universität begünstigt keine Primadonnen mehr, sie begünstigt, um es deutlich zu sagen, gleichmacherisch eher das Mittelmass und behindert dadurch ungewollt die volle Entfaltung der Hochbegabten aus lauter Angst vor Privilegienwirtschaft. Ich weiß bis heute noch nicht, was in kauf zu nehmen besser wäre: die Frustration der wegweisenden Hochbegabungen innerhalb der gleichmacherischen Standardausstattung an der demokratischen Universität, oder die unvermeidlichen Privilegien, die sich natürlich ergeben, wenn man wirklich großen Figuren die Möglichkeit ihrer vollen Entfaltung einräumt.

Doch zurück zum Problem. Kein vernünftiger Theologe der Vergangenheit wird auch den eigenen Schulhäuptern irgendeine unfehlbare Entscheidungskompetenz zuerkannt haben, wenngleich dies manchmal geschehen sein mag. Aber man gewann doch in der eigenen Schule zunächst einmal einen festen Boden unter den Füßen, von dem aus man ja dann gern in Neuland vorstoßen konnte. Heutige Theologinnen und Theologen gewinnen einen solchen Boden kaum noch unter die Füße. In allen Fächern, nicht nur, aber besonders natürlich in der systematischen Theologie, erleben die  Studierenden ihr Studium als den Sturz in ein wellen-schlagendes Gewässer, ehe sie recht schwimmen gelernt haben. Um dann nun nicht zu ertrinken, klammern sie sich an diesen oder jenen theologischen Ansatz, nicht selten an diese oder jene theologische Tagesmode, machen diese Mode zum Universalschlüssel und exklusiven Beurteilungsmaßstab für die ganze Theologie, ehe sie selbst in der Lage sind, den Ansatz und die Mode durch Einordnung in einen größeren Zusammenhang relativieren zu können. Das schwört der eine auf die Befreiungstheologie, die andere auf die jüdischen Wurzeln des christlichen Glaubens, der andere auf die Weiblichkeit Gottes, die andere auf das neuzeitliche Bewusstsein, der andere auf die vergessenen Traditionen der Besiegten der Kirchengeschichte und die andere auf das Human-Gespräch mit den Naturwissenschaften und der andere auf den tiefen- psychologischen Zugang zur Bibel. Die weniger Intelligenten bleiben dann bei dem gefundenen Rettungsring, reiben sich wund an jeder Fragestellung, werden aggressiv und lernen kaum noch etwas dazu, sofern es sie nicht selbst bestätigt. Die Intelligenten merken bald die Grenzen dieses Ansatzes, an dem sie sich zunächst festgehalten haben, empfinden umso schmerzlicher die nicht zu bewältigende Vielgestaltigkeit heutigen theologischen Denkens und heutiger theologischer Aufgaben und sind dann umso mehr geneigt, den Mut zu verlieren. In der katholischen Theologie ist die Situation unter dem Strich die gleiche. Nur aus anderen Gründen. Bis zum 2. Vatikanischen Konzil konnte man jedenfalls im Bereich der theologischen Ausbildung noch mit Einschränkungen von der  katholischen Theologie sprechen. Die lehramtlich erzwungene Übergröße theologischer Disziplin der vorausgehenden Jahrzehnte brach dann nach dem Konzil nun wie ein Damm unter dem Druck des Hochwassers, und im Zeichen der neuen Freiheit eines Christenmensches in der Kirche schien alles erlaubt, alles gut, alles zukunftsweisend, sofern man nur wirklich eifrig das Konzil beschwor.

Evangelische und katholische Studierende der Theologie aber verbindet in dieser Erfahrung die Sehnsucht nach dem großen, alles umfassenden, zukunftsweisenden theologischen Neuansatz. Und dies gilt nicht nur für die Studierenden! Wie überhaupt die beschriebene Orientierungslosigkeit nicht nur ein Problem der Theologiestudentinnen und Theologiestudenten ist.

Mir fällt mir jetzt nach der Orientierungslosigkeit die Einfallslosigkeit auf. Seit den frühen 70er Jahren schon ertönt das Klagelied vom desolaten Zustand der Theologie, dem es an tragenden, die Vielheit der Einzelheiten integrierenden, in die Zukunft weisenden Ideen mangele. Es ist kein Wunder, dass dieses Klagelied vorwiegend in der katholischen Theologie ertönte und ertönt. Sie hat ja auf Grund der angedeuteten  Entwicklungen länger als die evangelische Theologie in der Illusion einer die Einheit stiftenden Grundlage leben dürfen und empfand darum die nun mit Macht an den Tag drängende Vielfalt als bedrohlicher im Vergleich zu der in dieser Hinsicht mehr abgehärteten evangelischen Theologie. Aber unter dem Strich ergibt sich wieder eine ähnliche Situation. Nostalgisch wendet sich der Blick zurück: Was waren das für Zeiten, in den beiden Jahrzehnten zwischen den Kriegen und auch nach dem 2. Weltkrieg, als Männer vom Range eines Karl Barth, eines Rudolf Bultmann, eines Paul Tillich, eines Karl Rahner, eines Hans-Urs von Balthasar der Theologie den Weg wiesen, ein Weg, der sogar noch durch die zuckenden Blitze der Kontroversen und der an ihnen sich entzündenden Konflikte erhellt wurde. Und heute? Epigonen überall. Es gibt am Beginn dieses neuen Jahrtausends keinen Karl Barth, keinen Karl Rahner, die uns den Weg hinein ins neue Jahrtausend wirklich zu weisen vermöchten. Über diese großen Männer der ersten Jahrhunderthälfte werden heute Doktorarbeiten geschrieben, doch die sie schreiben, lassen nicht erwarten, dass von ihnen einmal ähnliches ausgehen könnte wie von den Helden ihrer Arbeit. Die Theologie scheint in ein Stadium des Rückblicks und der Bilanzen eingetreten zu sein, was deutlich wird an den immer zahlreicher werdenden Forschungsberichten aus allen theologischen Fächern. Die Einfallslosigkeit wird auch daran deutlich, dass die Zahl der Einführungen in die verschiedenen Bereiche der Theologie rapide zunimmt. Sie dienen den Studierenden als Ersatz, für die alte Orientierungshilfe durch die theologischen Schulen.

In einer zugleich fatalen wie paradoxen Logik scheint dieser Zustand sogar sachgemäß zu sein. Auf der einen Seite erscheinen die Möglichkeiten von Neuansätzen in der Theologie ausgereizt zu sein. Will man wirklich originell sein, dann muss man seine Zuflucht bei augenscheinlich exotischen Bemühungen suchen, etwa bei einer Verbindung von Teilhard de Chardin und New Age. Auf der anderen Seite haben wir ja in der Abarbeitung an den großen theologischen Entwürfen des letzten Jahrhunderts, die wir durch Namen gekennzeichnet haben, eine wahre Virtuosität darin gelernt, Einseitigkeiten aufzuspüren und im Ansatz nicht integrierte oder integrierbare theologische Sachverhalte, oft von beträchtlichem Gewicht, zu benennen. Nicht selten sind es gerade diejenigen, die am lautesten über die Kulturlosigkeit der heutigen Theologie klagen, die gleichzeitig durch die geradezu instinktive Jagd nach Einseitigkeiten und theologischen Defiziten den originellen Neuansatz zu verhindern wissen. Denn dass ein solcher seine zündende und mitreißende Kraft nur um den Preis der Einseitigkeit haben kann, das sollte gerade der Rückblick auf die viel gefeierten Entwürfe aus der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts lehren. Ein alles in ein ganz neues Licht tauchender umfassender theologischer Neuansatz und eine verlustlos alle an seinen  angemessenen Platz stellende große theologische Synthese, das ist heute offenbar ein Widerspruch.

Der letzte Punkt, den ich erwähnen möchte, um die Einfaltslosigkeit der Theologie zu charakterisieren, soll die Überschrift tragen:

Universitätstheologie und Gemeinde.

Den genannten beiden Hauptgründen für die Mutlosigkeit gegenüber der Theologie fügen sich ein alter und ein neuer, zugleich aber ebenfalls alter Grund hinzu. Der alte Grund ist das nach wie vor gespannte Verhältnis zwischen Universitätstheologie und Gemeinde. Theologie, so denkt doch der arglose Zeitgenosse und die arglose Zeitgenossin, soll doch wohl klärend, orientierend, problemlösend, befreiend dem Vollzug des Glaubens im konkreten Leben dienen, und das heißt: dem Glauben und dem Leben der Gemeinden. Gewiss darf und muss sie dabei immer wieder einen Schritt zurücktreten, um sich mit historischen und sachlichen Fragen zu befassen, die nur mittelbar im Bezug zum Glauben der Gemeinden stehen. Aber eben dieser mittelbare Dienst am Glauben der Gemeinde muss doch auf Nachfrage deutlich werden können. Heute gewinnt man in beiden Kirchen den Eindruck, dass die Theologie drauf und dran ist, diesen Bezug zu vergessen oder jedenfalls um so viele Stufen vom Glauben der Gemeinde zu entfernen, dass Theologinnen und Theologen oft einem Altorientalisten, einem Spätantikeforscher, einem Sozialgeschichtler, einem Kulturgeschichtler, einem Wissenschaftstheoretiker, einem Philosophen ähnlicher sehen als einer Vordenkerin oder einem Vordenker für die Kirche. Wenn ein Alttestamentler sein ganzes Leben der historischen Erforschung der alttestamentlichen Propheten widmet, wenn ein Neutestamentler seine Lebensarbeit Paulus verschrieben hat, wenn eine Kirchengeschichtler sein Leben lang schwerpunktmässig die Quellentexte der Reformation erforscht, dann ist der mittelbare Bezug zum Glauben der Gemeinde mit Händen zu greifen. In der Zeit, in der die Massenmedien definitiv die Herrschaft über das öffentliche Bewusstsein erlangen, waren wir alle froh, dass es solche Spezialisten gab, und wir haben allen Anlass zum Dank dafür, dass sie sich auch bereit fanden, in allgemein verständlichen Schriften solide Informationen über ihre fachlichen Erkenntnisse unter das Volk zu bringen und dadurch gegenzusteuern, wo ein unsorgfältiger Journalismus halbverstandenes Halbwissen verbreitete und die Gläubigen verunsicherte. Eine Zeitlang konnte man daher auch glauben, dass die Schere zwischen theologischer Wissenschaft und Gemeindefrömmigkeit dabei sei, sich zu schließen.

Heute sieht es so aus, als wollte die Schere sich wieder öffnen. Über die Gründe kann man nur rätseln. Die augenscheinliche Ausreizung aller denkbaren Ansätze, wovon wir geredet haben und das Streben nach unbezweifelbarer Zukünftigkeit, mögen im Verein mit weiteren Motiven dazu führen, dass eine junge Generation von Theologinnen und Theologen sich wieder auf einen solchen Pfad extremer Spezialisierung gibt, bei der der Dienst am Glauben aus dem Vordergrund des Bewusstseins entschwindet und die theologische Wissenschaft ein Spiel um seiner selbst willen wird. Nicht mehr die Theologie der Propheten wird dann zum Lebensthema, sondern – ich zitiere ein Beispiel - die religionsgeschichtlichen und die inneralttestamentlichen Verästelungen des Sühnebegriffs, nicht mehr Paulus, sondern die Theologie der hypothetisch rekonstruierbaren Quelle Q, nicht mehr die Quellen der reformatorischen Theologie, sondern das präzise Datum und der präzise Inhalt des reformatorischen Durchbruchs Luthers. Dies alles erweckt zunehmend den Eindruck  eines realitätsfernen Glasperlenspiels und im historischen Vergleich: wie eine neue Spätscholastik, die auch keine neuen Einfälle mehr hatte, aber die liegen gebliebenen kleinen Anschlussprobleme der hochscholastischen Synthesen bis zum Geht-nicht-mehr ausdifferenzierte. Schon beklagen sich Scharen von Studierenden über die Belanglosigkeit der Theologie, zumal der systematischen Theologie und fordern im blinden Umkehrschluss, diese müsse, bei Gefahr, ihre Daseinsberechtigung zu verlieren, zu jedem Problem die aus Glaubensgründen zu fordernde technische Problemlösung bereit stellen. Theologie und Gemeinde leben also wieder nebeneinander her, und welcher Studierende, dem nicht der Hörsaal und der Seminarraum das Leben selbst ist, wird Mut verspüren, menschlichen und gläubigen Einsatz an solcher Theologie  zu riskieren?

Ich habe von der Mutlosigkeit und dem Mut vernichtenden Problemen gesprochen. ich muss nun aber doch sagen: Was ist denn eigentlich Theologie?

Theologie ist denkender Glaube. Theologie ist so alt wie der Glaube selbst, insofern dieser nie ja ohne Gedanke ist. Selbstverständlich ist Glaube mehr als nur Gedanke, er ist umfassendes Selbstverständnis und umfassende Lebenspraxis des Menschen, nämlich jenes Selbstverständnis und jene Praxis, die bis in alle Einzelheiten davon ausgehen, dass das menschliche Leben und alles, was ist, sich Gott verdankt. Und darum vor seinem Angesicht sich abspielt. Aber eben dies ist nie nur ein dunkles Gefühl, ein um sich selbst nicht wissender dunkler Drang, sondern mitteilbares, hörbares, nach-vollziehbares Wort. Insofern ist der Glaube wortwörtlich Theologie, vernünftiges Wort von Gott. Und um gleich diese Konsequenz festzuschreiben: es ist darum sachlich unangemessen, zwischen einem so genannten schlichten Glauben und einem theologisch reflektierten Glauben zu unterscheiden. Denn einen durch und durch schlichten, von aller Theologie freien Glauben könnte es nur geben, wenn es einen gedankenlosen Glauben geben könnte. Und darum staunen wir Theologien oft, nicht schlecht, wenn so genannte schlichte Christen aus den Gemeinden sich nicht scheuen, gegen vorgetragene Thesen Einwände zu erheben und Rückfragen zu stellen, die vermeintlich unter Theologen so genannte Selbstgänger sind. Diese schlichten Gläubigen beweisen damit drastisch, dass sie unbeeindruckt  von Professorentitel und Bücherlisten selbst nachdenken, bestimmte Worte, Begriffe und Thesen für verdächtig halten und zumindest vorläufig andere vorziehen. Sie haben damit schon Theologie getrieben, sie haben Gedanken und Worte mit der gemeinten Sache verglichen, sie an ihr gemessen und Konsequenzen gezogen. Was anderes tut ein Theologe denn?

Glaube ist nicht nur denkender Glaube, sondern es geht auch beim Glauben um die Glaubenswissenschaft.

Trotz der fließenden Grenzen ist ein weiterer Unterschied anzumerken:

Die elementare theologische Reflexion, die jeden noch so schlichten Glauben begleitet und prägt, hat trotzdem in der Geschichte niemals den Namen Theologie getragen. Im Neuen Testament und bei den Kirchenvätern heißt es einfach Rechenschaft über den Glauben, Bekenntnis, Wort des Glaubens, Verkündigung oder nur Lehre. Es ist ein langer Weg gewesen bis ins 13.Jahrhundert hinein, dass daraus eine Glaubenswissenschaft wurde. Warum das so lange gedauert hat, ist unmöglich in einem Satz zu sagen, zumal ja auf diesem Wege schon enorme Leistungen an subtiler, theologischer Reflexion erbracht wurden, nicht wenige mit kirchengeschichtlichen Folgen, wie die altkirchliche Bekenntnisbildung zeigt. Ein äußerer Grund für die Länge des Weges mag in dem noch für lange Zeit wenig ausgeformten Bildungswesen liegen. Wichtiger war allerdings ein anderer Grund: Der Einklang zwischen der Botschaft des christlichen  Glaubens und dem herrschenden philosophischen, neuplatonischen, weltfeindlichen, leibfeindlichen, materiefeindlichen Wirklichkeitsverständnis blieb im Wesentlichen unbefragt. Selbst dort, wo die theologische Reflexion sich der philosophischen Reflexionsinstrumente dieses Weltbildes bediente, konnte sie trotzdem als eine Art theologischer Meditation erscheinen. die nichts anderes tat, als den in Gott begründeten Zusammenhängen zwischen den Heilsgeheimnissen nachzuspüren. Dieses leibfeindliche, materie-feindliche und weltfeindliche Denken hat heute noch Spuren in kirchlicher Arbeit hinterlassen.

Dieses alles ändert sich seit der 2. Hälfte des 12. Jahrhunderts und des 13. Jahrhunderts. An die Stelle des Monopols der Klosterschulen treten nun die Dom- und Stadtschulen, die sich im 13. Jahrhundert zur mittelalterlichen Universität entfalteten, zunächst in Frankreich und Paris, Italien und England, und von dort aus im folgenden Jahrhundert im gesamten Bereich des Heiligen Römischen Reiches. Die vordringende Philosophie des Aristoteles löste die unbefragte Geltung des platonischen Wirklichkeitsverständnisses ab, und ihr konnte niemand mehr eine Art von Einklang mit dem Wirklichkeitsverständnisses des christlichen Glaubens nachsagen. Erstmals seit ihren ältesten Tagen ist die christliche Glaubensverkündigung nun herausgefordert, sich umfassend mit einer ihr neuen, fremden Philosophie auseinander zu setzen, widersprechend, anknüpfend, umfordernd, und das heißt im Klartext: Sie muss eingehen auf die intellektuellen Verstehensvoraussetzungen von Christen, die diese Verstehensvoraussetzungen als solche nicht mehr unmittelbar aus der Prägung des christlichen Glaubens haben. Die christliche Glaubenslehre stellt sich dieser Herausforderung mit den inzwischen entwickelten methodischen und didaktischen Instrumenten des Lehr- und Forschungsbetriebes der Universität. So entsteht nicht nur eine neue Spielart theologischer Arbeit, sondern sie bewahrend und weitertreibend, Glaubenswissenschaft im eigentlichen Sinne. Um diese mit einem Namen zu benennen, möchte ich hinweisen auf den bedeutenden Theologen des 13. Jahrhunderts, Thomas von Aquin.

Damit kommen wir zum 4. Abschnitt unserer Überlegungen und fragen uns: Was gibt denn Mut zur Theologie? Was gibt Mut zu solcher Theologie? Was kann jungen Menschen Mut geben, eine solche geistige Bemühung wissenschaftlich zu erlernen? Was kann dazu ermutigen, sein Leben im wissenschaftlichen Beruf an sie zu hängen, einen praktischen Beruf auf sie zu gründen? Erstens, es ist der Glaube selbst, der Mut macht.

Die fundamentale und lapidare erste Antwort heißt: Der Glaube selbst gibt Mut zur Theologie. Um dies zu verdeutlichen, bedarf es keiner langatmigen Analyse des Glaubensbegriffes, sondern lediglich der Besinnung auf einige wenige seiner Wesenszüge, die allen Christinnen und Christen bewusst sind.

Der Glaube an Gott, der sich uns in Geschichte und Person Jesu selbst auslegt, ist kein Geheimwissen, sondern etwas zum Weitersagen bis an die Grenzen der Erde. Also muss es immer Theologie als Kunde von Gott geben, und zwar, wie uns heute unwidersprechlich deutlich geworden ist, als immer kontext-gebundene Kunde von Gott, danach schon auf dieser elementaren Ebene mit immer neuen und vielfältigen Worten und darum in andauernder Reflexion. Diese Ermahnung, so zu verfahren, haben wir immer nötig. Der Glaube erschließt allen Ernstes die ganze Wirklichkeit Gottes. Sie ist, das gerade ist der Inhalt des Evangeliums, von Ewigkeit her eine Wirklichkeit auf den Menschen und seine Welt hin, buchstäblich Gottes Gottsein für uns. So hat es Karl Barth jedenfalls formuliert. Aber gerade um dessentwillen darf der Glaube nie verschweigen, dass Gottes Gottsein in ihrem „Für uns“ nicht aufgeht. Theorien, die darauf hinauskommen, Thesen etwa, die  Gottes Wirklichkeit nur im Ereignis zwischenmenschlicher Beziehung oder ihrer Unbedingtheit zu sehen, mögen kurzfristig und mittelfristig faszinieren, sie sind aber nur Ersatzgedanken, die das Leben angesichts des Todes nicht wirklich tragen können. Darum darf und muss es Theologie geben als „Gottesdienst des Denkens“, als Meditation der ganz anderen Zusammenhänge des Gottseins Gottes auf uns hin und für uns.

Der Glaube hat seinen Widerpart auf der rechten Seite im Aberglauben, der zunächst nichts anderes ist als die Verwechslung von Schöpfer und Geschöpf. konkret wird der Aberglauben, seltener in der Theorie, häufiger aber in der Praxis, immer dann, wenn Denk- und Lebensformen, die von Haus aus der Konkretheit, buchstäblich der Fleischwerdung des Glaubens dienen sollen und auch gedient haben, im Laufe der Zeit mehr und mehr mit dem Glauben selbst gleich gesetzt und damit absolut gesetzt werden. Glaube geht nicht auf in karitativer Tätigkeit und karitativen Handlungen. Das muss deutlich sein. Darum muss wissenschaftliche Theologie alle argumentativen Instrumente einsetzen, um für solchen alle Zeit drohenden Aberglauben allzeit ein Gegengewicht bereit zu stellen, mit dessen Hilfe Missverständnisse, seien sie schuldhaft oder guten Glaubens unterlaufen, aufgelöst, notwendige Unterscheidung getätigt, Missbräuche beim Namen genannt werden können, so dass in der Christenheit niemals das Wissen darum untergeht, dass die Quintessenz des Glaubens die Freiheit eines Christenmenschen ist.

Der Gegner des Glaubens auf der linken Seite ist der Unglaube, der in allen seinen ernst zu nehmenden Formen, jenen also, die nicht auf Oberflächlichkeit und gedanken-losem Nachbeten der Tagesmode beruhen, immer darauf hinaus kommt, die Wirklichkeit als in sich selbst gegründet zu verstehen und den Glauben bestenfalls im menschlichen Geist  eine Provinz subjektiver Wertung zuzugestehen. Darum muss es wissenschaftliche Theologie geben, die unter Einsatz aller argumentativen Mittel darauf drängt, dass die Vernunft die Erfahrung ihrer eigenen Grenze, die Erfahrung des Ungegründetseins der Wirklichkeit in sich selbst, die Erfahrung der Offenheit von Mensch und Welt an sich heran lässt und daher die metaphysische Frage nach der Wirklichkeit und nach dem Menschen als Wesen der Transzendenz ( so hat es Karl Rahner formuliert) nicht hochmütig und verblendet zugleich abwehrt.

Ich weiß nicht, ob es wahr ist, was Gerhard Ebeling einmal geschrieben hat, dass außer dem christlichen Glauben keine andere Religion eine wissenschaftliche Theologie hervor gebracht hat, und dass eben diese Tatsache die Eigenheit des christlichen Glaubens beleuchte. Einiges spricht für Ebelings Feststellung, zumal die Tatsache, dass man selbst mit hochintelligenten, wissenschaftlich ausgewiesenen Moslems über eines nicht diskutieren kann: über eine historisch-kritische Untersuchung und Behandlung des Korans. Aber mag dies auch offen bleiben, wahr ist jedenfalls, dass der christliche Glaube ein Verständnis der Wirklichkeit im Ganzen aus Gott als ihrer Quelle anbietet und eben darum vor nichts, was wirklich ist, Angst hat und sich zurückzieht. Eben deshalb auch keine Angst vor irgendeiner vernünftigen Frage, und klänge sie von Anfang an noch so bedrohlich. Freilich auch keine Angst vor eindeutiger Grenzziehung zum Aberglauben, zum Unglauben, notfalls um den Preis, äußerlich den Eindruck der Intoleranz zu erwecken, wo es doch der Sache nach immer nur darum gehen kann, die Intoleranz verengender Wirklichkeitsverständnisses zu verhindern. All dies besagt nun nichts anderes als dies: Es ist der Glaube selbst, der mir den elementaren Mut zur Theologie gibt.

Als zweiten Punkt zur Ermutigung zum Glauben möchte ich die Erfahrungen der Gegenwart, die Erfahrungen in meinem eigenen theologischen Studium und meiner eigenen theologischen Entwicklung sagen. Die Ermutigung zur Theologie,  die aus der Theologiegeschichte kommt, geht nahtlos über in die Ermutigung durch die Gegenwart. Die zu Beginn unserer Erwägungen genannten Faktoren der Entmutigung sind zwar ganz gewiss keine optische Täuschung. Aber wenn wir die Theologie des vergangenen Jahrhunderts Revue passieren lassen, so haben uns in keinem Jahrzehnt die großen Figuren gefehlt, an denen wir Maß nehmen, mit denen wir uns identifizieren konnten. Das letzte Jahrhundert begann ja für die Theologie beider Kirchen mit einer Katastrophe. Auf katholischer Seite mit der hysterischen Verurteilung einer Reihe theologischer Versuche, neue Fragen an die kirchliche Tradition zu stellen, die von Haus aus ähnlich miteinander zu tun hatten, aber von ihren Gegnern unter dem ganz äußerlichen Etikett des Modernismus zusammen gefasst wurden. Man kann heute gut und gerne die Geschichte der katholischen Theologie des 20.Jahrhunderts schreiben als eine Geschichte des Versuchs, sich erst auf Umwegen, dann vorsichtig und schließlich immer offener auf direktem Wege von den blockierenden Folgen der antimodernistischen Erscheinung vom Anfang des vergangenen Jahrhunderts zu emanzipieren. Welch große Theologen stehen nicht an den Wendepunkten dieser Wege! Karl Adam, Michael Schmaus, Josef Lortz, Hugo und Karl Rahner, Marie Dominique Chenu, Urs von Balthasar, Franz Böckle und Rudolf Schnackenburg.

Auf evangelischer Seite beginnt das vorige Jahrhundert mit dem Zusammenbruch der liberalen Theologie durch die Erfahrung des 1. Weltkrieges. Alle Identifikationen des Christentums als der absoluten Religion unter den Bedingungen dieser Welt fanden sich in der Sicht der beginnenden dialektischen Theologie unter dem vernichtenden Gericht Gottes über alle Religionen. Man kann die Geschichte der evangelischen Theologie im vergangenen Jahrhundert, wie es vorbildlich Heinz Zahrnt getan hat, schreiben als Geschichte der fortschreitenden Entfaltung, Verzweigung und auch Kontrapunktierung dieses Aufbruchs der dialektischen Theologie. Und welche zur Theologie mutmachenden großen Figuren stehen nicht an den Wendepunkten dieses Weges! Karl Barth, Emil Brunner, Rudolf Bultmann, Paul Tillich, Paul Althaus und nicht zu vergessen die bedeutenden Theologen der Bekennenden Kirche Hans-Joachim Iwandt, Ernst Wolf, Dietrich Bonhoeffer, auch müssen wir an die großen Exegeten denken, wie etwa  Gerhard von Rad, Günther Bornkamm, Helmut Thielicke, Gerhard Ebeling.

Nach diesem Überlegungsgang bis zu diesem Punkt möchte ich eine abschließende Bemerkung machen.

Wir können diese Erwägungen über Größe und Grenze der Theologie doch gar nicht anders schließen als durch ein Zitat aus dem großen 13. Kapitel des 1. Korintherbriefes von Paulus. „Jetzt schauen wir noch wie durch einen Spiegel auf ein Rätselbild, dann aber werden wir schauen von Angesicht zu Angesicht.“ Das klingt zunächst wie eine radikale Entmutigung und ist es im gewissen Sinne ja auch. Nie wird es die Theologie dahin bringen, Gott zu schauen. Alle Theologie bringt es nur zur Spiegelung eines verrätselten Bildes. Unsere Anhaltspunkte für die Wirklichkeit Gottes sind, so Paulus, nur Spiegel, und auch diese geben mehr Rätsel auf, als sie Erkenntnis verschaffen können. Aber dabei wird es nicht bleiben, wie nach Thomas von Aquin der Glaube, so ist auch die Theologie immerhin der Anbeginn der Schau Gottes, sie wird, wenn er sich uns von Angesicht zu Angesicht enthüllt, nicht abgeschafft, sondern endgültig zu ihrem Thema gebracht.

In dieser Hoffnung haben sich alle großen Theologen, alle meine Lehrer, auch Rudolf Bultmann, getröstet, je älter sie wurden und je mehr sie sehr lebendig erfuhren, wie armselig alle unsere Worte über Gott doch sind. Dadurch aber ist dieses Paulus-Wort dann auch schließlich ein großes Trostwort: „Wir können nicht nur nicht mehr als ein rätselvolles Spiegelbild vor den Blick bringen, wir müssen auch nicht mehr erreichen, bis Gott selbst das Spiegelbild enträtselt.“ Diese tröstliche Einsicht hat Karl Rahner, für mich ist dies immer wieder wichtig, einmal mit dem wunderschönen Satz kommentiert:

„Wir – wir Theologinnen und Theologen, und alle, die den Mut zu denkendem Glauben haben, wir spielen immer nur die unvollendete Symphonie zur Ehre Gottes, und immer ist es nur Generalprobe.“

Martin Gerlach

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