Erinnern

 
  An diesem Sonntag trauert unser Land und Volk um die Menschen, die in Kriegen umkamen, die in diktatorischen Herrschaftssystemen ihr Leben lassen mußten, und auch um die, die aus rassistischen und religiösen Gründen ermordet wurden. Trauern hat für mich an diesem Tage die Form der Erinnerung. Doch wie geschieht das Erinnern in dieser Situation?  
 
Ich habe etwas über solch ein Erinnern gelernt in der beeindruckenden Rede, die der israelische Staatspräsident Ezer Weizman bei seinem Deutschlandbesuch im Jahre 1996 gehalten hat: „Die Erinnerung verkürzt die Distanzen. Ich war überall dabei. Ich war ein Sklave in Ägypten und empfing die Thora am Berge Sinai. Zusammen mit Josua überschritt ich den Jordan. Ich habe gegen die Römer gekämpft und bin aus Spanien vertrieben worden. Ich habe meine Familie in Kishinev verloren und bin in Treblinka verbrannt worden. Ich habe im Warschauer Aufstand gekämpft. Und wie ich die Väter in jenen Tagen begleite, so begleiten mich meine Väter und stehen hier und heute neben mir.“
 
Erinnerung ist Teilhabe und Gemeinsamkeit, weil die Distanzen verkürzt werden. Das ist mehr als ein intellektueller Vorgang. Durch Teilhabe geschieht Identifikation mit den Leidenden der Vergangenheit und so zugleich Vergegenwärtigung des Vergangenen. So kann leidvolle Vergangenheit auch prägend für die Gegenwart werden.
 
Dafür hat die jüdische Tradition ein erläuterndes Beispiel. Am Vorabend des Pessach-Festes wird in der Familie die Geschichte vom Auszug aus Ägypten aus dem Alten Testament vorgelesen. Dabei wird auch die Vergangenheit vergegenwärtigt: Vergangene Befreiung wird durch Teilhabe zur Befreiung in der Gegenwart. Die jetzt Lebenden ziehen in die Freiheit. So wird Erinnern für mich sinnvoll.
 
Wir haben in der Bundesrepublik eine intensive Diskussion über Erinnern geführt in der Folge der Rede, die Martin Walser anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 1998 gehalten hat. Daran fand ich vieles befremdlich. Enttäuscht hat mich, dass unsere jüdischen Mitbürger dabei nicht mehr von ihrer jüdischen Form der Erinnerung geredet haben. Das hätte weitergeführt. Jetzt ist die Diskussion verstummt, wir bauen ein Mahnmal und erinnern uns so. Erinnerung versteinert. 
 
So muß wohl noch ein anderer Akzent gesetzt werden, damit Erinnerung lebt. Diejenigen, die den letzten Krieg und die Grausamkeiten dieser Zeit überlebt haben, sterben allmählich aus. Wir können glücklich sein über eine so lange Friedenszeit. Dennoch ist in Europa Krieg, und es geschehen Grausamkeiten. Der Heidelberger Ägyptologe Jan Assmann fordert in dieser Situation: „Wenn eine Erinnerung nicht verloren gehen soll, dann muss sie aus der biographischen in kulturelle Erinnerung transformiert werden.“ Wir benötigen eine Gedächtnis- und Erinnerungskultur. Kein Abschnitt unserer Geschichte darf aus der kollektiven Erinnerung verdrängt werden, sonst kann anderes die Lücke besetzen.
 
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Martin Gerlach